Sophie Schmidt #2: "Von der Idee zum Applaus. Oder "die Relevanz von Raufasertapeten" Nr. 1

Puh, es ist viel Zeit ins Land gegangen, seit dem letzten Eintrag. Was soll ich sagen? Hinter mir liegen einige Vorstellungen, Proben, über Ostern haben mich Schnapspralinen und Eierlikör für mindestens eine Woche lahm gelegt und nicht zu Vergessen die intensive innere Arbeit an meinen Rollen (der Begriff `Innere Arbeit` ist Schauspielerjargon und bezeichnet Tätigkeiten wie `Raufasertapete anstarren` oder `Mittagsschlaf machen`, was leider weder nach Kunst noch nach Arbeit klingt, also haben sich weise Kollegen vor meiner Zeit einen schöneren Begriff ausgedacht, denn Schönheit ist in der Kunst sehr wichtig, das könnt ihr Euch merken). Doch heute will ich Euch weiter berichten vom Leben auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Zu diesem Zweck habe ich ihn geschrieben – Den Ablauf einer typischen Theaterproduktion.

Die folgende Dokumentation und alle auftauchenden Personen sind selbstverständlich frei erfunden.

1 Jahr vor der Premiere:

Im Rahmen der Spielplanerstellung landet ein Stück auf dem Tisch im Büro des Intendanten. Es ist hervorragend geschrieben, unterhaltsam und hat einen aktuellen Bezug. Außerdem hält sich der technische Aufwand im Rahmen und die allermeisten Rollen können aus dem festen Ensemble besetzt werden. Das ist nicht unwichtig, denn trotz intensiver Suche konnten wir bislang keine Trapezkünstler, Ponys oder Opernchöre in Castrop-Rauxel auftreiben. Wir haben versucht die Kaninchen vom Europaplatz zu dressieren, aber bald feststellen müssen, dass die zwar flauschig sind, aber auch dumm wie zehn Meter Feldweg und absolut unbegabt! So gaben wir also alle Träume von Drehbühnen, Trapeznummern, Kinderstatisten, ach was red ich, von Statisten überhaupt auf und arbeiten mit praktischeren Dingen, wie schwarzen Wänden, Stühlen, Podesten, Licht- und Tontechnik. Aber ich schweife ab… Das Stück wird also von allen Verantwortlichen begeistert aufgenommen und auf den Spielplan gesetzt. Wenig später stellt sich heraus, dass es entweder schon von einer anderen Bühne gespielt wird oder dass es sich schlecht verkaufen wird. Ein neues Stück wird gesucht, eines, das einen berühmten Autor hat (Goethe, Schiller, Shakespeare, Brecht etc.). Wahlweise kann es auch bereits erfolgreich verfilmt sein oder ein populäres Thema behandeln. Das neue Stück ist wie gesagt hervorragend geschrieben, unterhaltsam und den aktuellen Bezug werden der Dramaturg und die Theaterpädagogen schon finden. Die Leitung und die Einkäufer sind zufrieden. Es kommt auf den Spielplan.

Einige Monate vor der Premiere:

Nachdem ein Regisseur und ein Bühnen- und Kostümbildner gefunden und deren Pläne mit den Anforderungen an die Gewerke (Technik/Ton/Licht + Requisite + Kostüm + Maske = Gewerke) abgegeben wurden, beginnt es – das große Tauziehen zwischen den technischen Abteilungen, der Theaterleitung und dem Regisseur, deren Vorstellungen von Möglichem und Unmöglichem zuweilen weit auseinander liegen. Die Techniker werfen ihre Stirn in Falten und schütteln die sorgenvollen Köpfe. Im Aufenthaltsraum wird lebhaft diskutiert. Dann ist der Kaffee alle. Die Stimmung erreicht den Tiefpunkt. Die Schauspieler, die von allem zuletzt erfahren, drücken währenddessen ihre Ohren und Nasen an Türen und Scheiben. Ich verstehe nichts von dem, was gesagt wird. Dass ich noch nicht umgekommen bin, beim Versuch einen Nagel in die Wand zu schlagen ist nicht weniger als eine Gnade des Schicksals, was mich aber brennend interessiert sind Informationen über die Inszenierung und vor allem die Besetzung. Ich will unbedingt wissen ob ich spielen darf, was ich spielen möchte und mit den Gerüchten und den Wortfetzen aus dem Aufenthaltsraum kann ich hervorragend spekulieren.
Am Haus beginnt langsam die Arbeit an der neuen Produktion und mischt sich unauffällig unters Tagesgeschäft. Ich nutze meine Pausen um herumzulungern, ich meine, um an meinen Rollen zu arbeiten und sammle Informationen. Wenn ich genug weiß um konkrete Fragen stellen zu können, beginne ich damit, denjenigen auszuhorchen, der die Besetzung einfach kennen muss, meinen armen Chef. Er darf nichts sagen und sagt auch nichts, aber eine Andeutung ist eigentlich immer drin und die ist, da ich meine Verhöre ja gut vorbereite, genau so gut, wie der Besetzungszettel. Ich weiß endlich Bescheid und unser Intendant hat seine Ruhe. Das ist Win-Win. Ich nehme mir sofort das Stück her und lese und plane und schleppe in den folgenden Tagen das Büchlein überall mit hin. Das sind meistens glückliche Tage, denn jedem Anfang wohnt bekanntlich ein Zauber inne. Die Reaktionen auf eine neue Rolle können sehr, sehr unterschiedlich sein. Ist die Rolle leicht, dann bin ich sorglos und voller Vorfreude. Ist sie anspruchsvoll, dann mischt sich unter die Anspannung immer so eine leise Angst, die man manchmal bis zur Premiere nicht wieder los wird. Es gibt auch Rollen, bei denen man gelinde gesagt enttäuscht ist. Am Schlimmsten ist es, wenn ein anderer spielen darf, was man selbst so gern gespielt hätte. Es ist ein sehr hässliches Gefühl, oft begleitet von sehr hässlichen Gedanken, die aber zum Glück nie lange anhalten, weil sich der blutarme kleine Rollenkrüppel meistens doch als liebenswerte komplexe Figur entpuppt. Dann schluckt man seine Frustration und seinen Neid herunter und nimmt es sportlich. Es gibt keine kleinen Rollen, nur kleine Schauspieler, das könnt ihr Euch auch merken.
Bei unserem aktuellen Stück ist alles gut, es ist eine schöne Rolle und eine Aufgabe mit der ich klar komme, ich bin sehr zuversichtlich und teile zufrieden mein gesammeltes Wissen mit anderen interessierten Kollegen.

7 Wochen vor der Premiere:

Endlich Leseprobe. Bei der Leseprobe kommen das erste Mal alle am Stück Beteiligten zusammen, also der Regisseur, der Bühnenbildner, der Kostümbildner, die Choreografin, der musikalische Leiter, Requisiteuse, technischer Leiter, die Schauspieler vom Haus und die Gastschauspieler, der Intendant und unser Theaterfotograf. Die Leseprobe ist morgens, was bekanntlich nicht unsere Zeit ist, aber trotzdem kommen alle etwas eher als sonst, ich auch. Wir werden herzlich begrüßt von der gurgelnden Kaffeemaschine und setzen uns, bewaffnet mit Federmäppchen um einen langen Tisch. Der Regisseur hält eine kleine Rede. Meistens freut er sich über alles, über das schöne Stück, das gute Wetter zu Probenbeginn, das tolle Team, darüber dass es genug Stühle gibt und über den Kaffee. Der Intendant sagt ein paar Worte, also genau vier. “Ich freue mich auch.” sagt er und lacht. Vielleicht weil er sich freut, die missliebige Aufgabe, eine Ansprache zu halten, so effizient gelöst zu haben. Aber das ist nur eine Vermutung. Wenn alles gesagt ist, die Figurinen (Entwürfe für die Kostüme) herumgegangen und das Modell vom Bühnenbild bestaunt wurde lesen wir das Stück ohne Kunst, also ohne viel zu gestalten. So sollten wir lesen. Aber es gibt Kollegen, die sich trotzdem mit großem Körpereinsatz über ihr Textbuch hermachen. Die anderen wollen sich natürlich nicht an die Wand lesen lassen und steigen voll mit ein. Spucke fliegt über den Tisch, böse und leidenschaftliche Blicke, Kunstpausen werden ausgereizt bis irgendwer sagt: “Du bist dran.” Ein Regisseur in Raum macht Schauspieler manchmal zu fuchtelnden, koketten Knattermimen, und das Gemeine ist: Man merkt’s erst hinterher. Meistens bremst uns irgendwann der Regisseur. Was er dabei denkt, weiß ich Gott sei Dank nicht.
Bei der Leseprobe beginnt auch das Feilschen um den Text, denn was dort auf dem Tisch liegt ist nicht das gesamte Stück sondern eine Strichfassung oder gar Bearbeitung. Und als Schauspieler verliebt man sich eben in bestimmte Sätze. Meist sind sie kitschig und pathetisch. Der Regisseur meint, sie erzählen nichts und halten die Handlung auf, ich bin blind vor Liebe. Meistens gibt man scheinbar klein bei um die schönen, schönen Worte dem Spielverderber irgendwann unterzujubeln. Es ist ratsam, sich hierzu mit der Souffleuse und dem Regieassistenten gut zu stellen, damit sie einen nicht verpetzen, wenn man aus Versehen auf der Probe einen Strich öffnet (also einen bereits gestrichenen Text trotzdem verwendet). Nach dem Lesen geht es auf die Bühne. Ich kann mich plötzlich nicht mehr normal bewegen. Alles verlernt. Sprechen geht gerade so, aber nur, weil ich auch privat viel übe. Ich denke, ich hätte besser Bürokauffrau werden sollen und gehe frustriert nach Hause. Die Proben haben begonnen.
In den folgenden Wochen stellen wir das Stück durch, üben alles, was außer laufen und sprechen noch verlangt ist, lernen unseren Text, verheddern und ordnen uns. Dazwischen sind Abstecher samt Vorstellung, manchmal eine Wiederaufnahmeprobe. Abends sitzen wir hin und wieder irgendwo zusammen und reden. Ich habe relativ geregelte Zeiten, räume auf, lese, habe Hobbys und treffe mich mit Freunden. Es sind die Wochen in denen man am ehestens das Gefühl hat, einer normalen Arbeit nachzugehen. Das ist, bevor die Endproben beginnen, der Endspurt, wenn man so will. Dann gerät mein Leben völlig durcheinander. Davon mehr in Bälde!

Von WLT-Schauspielerin Sophie Schmidt