Thomas Zimmer #2: Alle Jahre wieder

Hallo, liebe Leser, und willkommen zu meiner zweiten Kolumne!

Unsere Premiere von Er ist wieder da am 31. Januar hätte nicht besser laufen können: Ausgelassenes Gelächter im Publikum an den Stellen, die auch wir sehr witzig finden. Und bedrückende Stille gegen Ende des Stückes, wenn Adolf Hitler kurz davor steht, wieder zu beträchtlicher Macht zu kommen und alle sich fragen, wie es dazu kommen konnte. Wir sind sehr glücklich mit dieser Inszenierung und freuen uns auf die Abstecher mit ihr.

In der letzten Kolumne schrieb ich darüber, wie passend dieses Stück bedauerlicherweise grade jetzt im Angesicht zahlreicher Pegida-Demos in ganz Deutschland ist. Pegida scheint sich momentan aufgrund innerer Machtkämpfe glücklicherweise von selbst zu erledigen.

Aber noch ein anderes, nicht weniger zu unserem Stück passendes Thema ging in den letzten Wochen durch die Medienlandschaft: Die Befreiung des KZ Auschwitz durch alliierte Truppen. Und dieses Mal jährte sich dieses Ereignis zum 70. Mal. Grund genug und Anlass für zahlreiche gut gemachte und wichtige Dokumentationen im deutschen Fernsehen. Und leider auch für all jene, die – alle Jahre wieder – Auschwitz „nicht mehr hören“ können. Und zum 70. Jahrestag scheinen sie kein Halten mehr zu kennen. Orchestrales Lamento: „Warum soll ich für etwas, bei dem ich nicht dabei … sollen wir uns denn ewig … guck doch mal, was die heute in Gaza!“ 58 % der Deutschen wollen laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung einen „Schlussstrich“ unter…nun ja, das Ganze. Fragt sich, warum sie konsequenterweise nicht auch die letzten Holocaust-Überlebenden bitten, endlich den Mund zu halten. Irgendwann muss doch mal.
Aha. Irgendwann muss also mal.

Ich denke und hoffe, liebe Leser, dass es Sie nicht verwundert, wie ich darüber denke und dass Sie genauso darüber denken. Eigentlich sollte es sich von selbst verstehen. Eigentlich. Aber diese „Schlussstrich“-Menschen – nennen wir sie die „SS-Menschen“, denn galliger Spott hilft, mir zumindest ein bisschen – die SS-Menschen hören ja nun leider nicht auf, diesen Schwachsinn Jahr für Jahr wieder von sich zu geben. Ich bin entsetzt und angewidert. Beschämt und verzweifelt. Jedes Jahr wieder, wenn ich nicht weiß, ob wir uns endlich weiterentwickeln oder doch eher Rückschritte machen.

Hilflose Betroffenheit, die allein niemandem nutzt, ich weiß. Aber mein Verständnis für die SS-Menschen hört, wie das für ihre Freunde bei Pegida, nun mal ganz schnell auf: beim Herzen. Ich begreife nicht, wer als halbwegs empathischer und minimal sozialisierter Mensch die Bilder von Auschwitz, von Dachau, von Birkenau sehen und daraufhin als erstes auf die Idee kommen kann, das eigentliche Opfer sei nun aber er oder sie selbst, weil man ihn oder sie als armen Deutschen bzw. arme Deutsche einfach nicht in Ruhe lassen will mit „dieser Geschichte“.

Ist doch schon so lange her. Ja und?
Ich war damals nicht dabei. Ja und?
Die Briten haben Dresden bombardiert. Ja! Und?
Aber warum sollten all diese Tatsachen den SS-Menschen das Recht geben zu sagen, darüber müsse man nicht mehr reden?
Haben sie auch nur den Hauch einer Ahnung, wovon sie da überhaupt sprechen?

Menschen eines ganzen Kontinents werden wie Vieh zusammengetrieben und in Züge verfrachtet. Diese Züge fahren zu Fabriken, die einzig und allein zu dem Zweck gebaut wurden, diese Menschen auf bestialische Art und Weise ums Leben zu bringen. Nicht, weil sie Verbrechen begangen oder sich anderweitig etwas zuschulden haben kommen lassen. Einfach nur, weil sie sind, wie sie sind. Vermeintlich „anders“ als ihre Mörder.

Was wie der Plot eines furchterregenden Endzeit-Szenarios klingt, ist Realität. Es ist passiert. Nicht vor tausend Jahren in Mittelerde, sondern vor 70 Jahren in Deutschland. Hier. Berlin, München, Hamburg. Kassel und Fulda. Castrop-Rauxel.
Irgendwann muss also mal.

Mein Opa starb im KZ und mein Vater war 6, als der Krieg zu Ende ging. Es ist nicht lange her. Aber das ist egal. Es könnte fünfhundert Jahre her sein und es würde nichts ändern.

Viele der SS-Menschen und ich teilen das, was Helmut Kohl 1983 die „Gnade der späten Geburt“ nannte: Ein Leben unbehelligt von den Schrecken des Nationalsozialismus‘. Und ich weiß nicht, ob diese Leute, die sich jetzt zum Thema Auschwitz, auch und grade in sozialen Netzwerken, diesen „neuen Medien“ mit ihrer so angenehmen Anonymität, so erschreckend ungebildet, unreflektiert und ja, so emotional völlig abgestumpft äußern – ob diese Menschen sich dieser Gnade bewusst sind und wissen, was sie da eigentlich reden.

Viele junge Leute sind es. Menschen in meinem Alter, und noch jüngere. Ich kann nur rätseln, woher das kommt, kommen kann in dieser Zeit, in diesem Land. Eine jüngere Bekannte von mir aus Wien antwortete mal auf meine Frage, warum sie sich mit Zeitgeschichte so erschreckend wenig auskenne, mit der Aussage, Geschichte interessiere sie nicht, weil das „eh schon alles rum“ sei. Und dann wählte sie die FPÖ. Weil die seien für Österreich und so.

Ist es das vielleicht? Überdruss? Desinteresse? Nach der x-ten Guido-Knopp-Reportage wollen wir endlich leben im Hier und Jetzt? Haben wir nicht schon genug Probleme?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es sich so verhält. Aus einem einfachen Grund: weil viele SS-Menschen nicht nur genervt und übersättigt auf dieses Thema reagieren, sondern auch noch so: Persönlich beleidigt. Rechtsradikale mit ihren kruden Ansichten können dabei außer Acht gelassen werden, aber von ihnen ist es oft nicht weit bis zu den „ganz normalen Bürgern“, die sich auf Facebook und Co. in teilweise verfassungsrechtlich bedenklicher Art und Weise (früher fragte man: „Traust du dich auch, das laut zu sagen?“) in nationalistischem Beleidigt-Sein, unreflektiertem Gepöbel und offenem Antisemitismus ergehen.

Für sie ist die Erinnerung an den Holocaust keine Verneigung vor seinen Opfern, keine staatsbürgerliche (und menschliche!) Selbstverständlichkeit und kein Versprechen, dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passiert – es ist eine gegen sie persönlich gerichtete Beleidigung. Und da erlaube ich mir die Frage, was für ein armes und trauriges Leben solche Menschen führen müssen.

Von einer Erinnerung an vergangene Taten, an denen sie ja tatsächlich nicht beteiligt waren und die ihnen demzufolge auch niemand zum persönlichen Vorwurf machen würde, sich angegriffen und beleidigt zu fühlen, die „Ehre“ des Landes verletzt zu sehen, ohne zu begreifen, dass die größte Ehre für dieses Land ist, dass man ihm verziehen und ihm gestattet hat, zu einem Land zu werden, in dem auch sie ihre abstruse Meinung äußern dürfen, ohne dafür ins KZ gesteckt zu werden – das ist schon eine ebenso traurige wie erbärmliche Geschichte.

Und kurioserweise sind es grade sie, die beleidigten SS-Menschen, die von deutschem Stolz, deutscher Identität, deutscher Kultur und ihrer Wahrung und Verteidigung reden, wenn sie nur den Mund auftun – aber das Eine, entscheidende, identitätsstiftende Ereignis der jüngeren deutschen Geschichte, das wird dann ausgeklammert, ausgespart und nicht mehr erwähnt? Es erübrigt sich zu sagen, dass es so natürlich nicht funktioniert. Himmeleins nochmal!

Ich weiß nicht, was ich den SS-Menschen daraufhin entgegnen soll. Ich wüsste nicht, wo anfangen.Ich weiß nur, dass ich sehr froh bin, dass die meisten Menschen in diesem Land nicht so denken wie sie und teilweise deutlichen Widerstand leisten. Und ich kann versprechen, dass auch ich alles in meiner Macht stehende dafür tun werde, dass dies so bleibt.

Das ist nicht viel, aber es ist ein Anfang. Und wenn viele mitmachen, führen viele kleine Anfänge vielleicht irgendwann zum großen Ziel.
Nein, es darf nie Schluss sein mit „dieser Geschichte“.
Vielen Dank fürs Zuhören, und bis zum nächsten Mal!

Von WLT-Schauspieler Thomas Zimmer

(Hier zu allen Beiträgen aus der Rubrik Hinter den Kulissen)

Thomas Zimmer