Es wird sicher einige Sachen geben, die das Publikum nicht kennt und wo es die Neugier und Offenheit braucht, sich auf eine Zeit einzulassen, die auch schon ein bisschen weiter weg ist, nämlich hundert Jahre. Die ist eben nicht so eins zu eins so wie wir waren, die ist schon anders. Aber es gibt unglaublich viel zu entdecken. – Tankred Schleinschock
WLT: Warum sind die 20er Jahre für Dich so ein spannendes Jahrzehnt?
Tankred: Neben der Tatsache, dass es jetzt etwa 100 Jahre her ist, ist es die erste Zeit, in der Deutschland eine Republik war, der erste Versuch in Demokratie quasi. Und gleichzeitig eine Zeit enormer sozialer und politischer Spannungen. Dies hing sicherlich mit der starken Polarisierung in der Gesellschaft zusammen. Und mit dem Ersten Weltkrieg. Ich habe mir als Fünfzehnjähriger ein Buch über die Weimarer Republik gekauft – so einen Wälzer, den habe ich auch den Kolleg*innen gegeben -da sind Fotos von Leuten drin, die aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekommen sind. Ich war damals ein Teenager – ich konnte tatsächlich mehrere Nächte nicht schlafen. Ich habe so was noch nie gesehen, das ist unvorstellbar gewesen, was für menschliche Krüppel zurückgekehrt sind. Ein halbes Gesicht weggeschossen, keine Nase mehr – wirklich nur noch die Hälfte übrig. Und die konnten oder mussten vielmehr so weiterleben. Es ist völlig unvorstellbar, was für ein Elend nach dem Ersten Weltkrieg herrschte. Dazu kamen die Spanische Grippe und das Erstarken rechter Kräfte in der Gesellschaft, da gibt es ja irgendwie eine Art von Parallele zu unserer heutigen Zeit. Was mich vor allem aber fasziniert, wie kulturell vielfältig die 20er Jahre waren. Wenn man sieht, was in der Zeit, sowohl in der Literatur und Kunst als auch in der Musik los war. Bei den ersten Proben bin ich daher oft gefragt worden „Was?! Das stammt aus der Zeit?“ Es gab damals eine unglaubliche Direktheit und Offenheit. Denn die 50er-Jahre etwa, nach dem Zweiten Weltkrieg, waren das pure Biedermeier. Wenn man sich anguckt, wie zum Beispiel die Rolle der Frau in den 50er Jahren war, und das vergleicht mit dem, wie weit die Gesellschaft in den 20er Jahren schon war. Das war ein horrender Rückschritt und es ist unglaublich interessant, das zu zeigen.
WLT: Welche Unterschiede siehst du da?
Tankred: In Deutschland etwa wurde die Frau in den 20ern immer selbstbewusster. Sie fing an zu arbeiten, stellte ganz neue Ansprüche und beanspruchte – mit Recht – eine stärkere Rolle im Leben, nicht nur die des Anhängsels eines Mannes. Aber auch ganz offen lesbische oder schwule Beziehungen konnten gelebt werden. Da gab es viele Dinge, die jetzt erst wieder neu in der Gesellschaft akzeptiert werden müssen.
WLT: Zum Beispiel?
Tankred: Zum Beispiel den Antisemitismus, der in der Weimarer Republik extrem stark war und natürlich mit zunehmender Dauer immer stärker wurde. Viele jüdische Mitbürger*innen in der Zeit waren im kulturellen Bereich tätig, wie etwa Karl von Ossietzky, Kurt Tucholsky, Friedrich Hollaender – und mussten zum Teil emigrieren oder landeten im KZ und wurden ermordet. Das heißt, danach blutete alles aus und es blieb fast nichts übrig von dem, was die Kultur der 20er Jahre ausgemacht hat.
WLT: Wie setzt du bei dieser Themenvielfalt einen Fokus in deiner Inszenierung? Wie hast du dich auf die neue Produktion vorbereitet?
Tankred: Es ist ja nicht die erste Revue zu diesem Jahrzehnt, die ich gemacht habe. „Als gäb’s kein Morgen“ habe ich zur Erinnerung an eine bestimmte Person inszeniert. An meinen ersten Intendanten, mit dem ich hier am WLT zusammengearbeitet habe: Herbert Hauck. „Als gäb’s kein Morgen“ habe ich einer bestimmten Person gewidmet. Meinem ersten Intendanten, mit dem ich hier am WLT zusammengearbeitet habe: Herbert Hauck. Er war ein großer Sammler von Chansons der 20er Jahre und als er verstorben ist, hat er mir die Kisten mit seinen ganzen Liederschätzen vermacht, aus denen ich jetzt schöpfen konnte. Bei der ersten 20er-Jahre Revue war ich noch nicht der Regisseur, das hat Herbert Hauck selber gemacht, ich war musikalische Leiter und noch ganz neu am WLT. Das war eine ganz tolle Show damals. Herbert Hauck hat den Schwerpunkt ausschließlich auf Deutschland gelegt. Ich wollte es jetzt aber etwas internationaler haben, weil ich gemerkt habe, dass das die Realität der 20er Jahre war. Ich habe mich sozusagen für drei Stationen entschieden: Für Berlin, Paris und New York. In Paris etwa war die Mode sehr stark. Denken wir an Coco Chanel und das „kleine Schwarze“ oder das Parfüm „No. 5“, das sind ja absolute Klassiker geworden. Und dann natürlich die USA, mit der Zeit der Prohibition, der Alkoholverbotszeit. Wodurch eigentlich – so widersinnig das ist – der Alkohol erst zum Bestandteil der hohen Klassen wurde. Es war einfach schick Alkohol zu trinken. Ich finde es sehr interessant diese drei verschiedenen Städte mit ihren jeweiligen spezifischen Ausdrucksformen nebeneinander zu stellen und zu zeigen, wie sie sich gegenseitig befruchten, gleichzeitig aber auch wie stark die Kontraste teilweise sind. Das gibt eine ganz schöne Struktur für das Programm.
WLT: Und wie sieht das aus?
Tankred: Es sind 41 ganz unterschiedliche Songs. Schön ist, dass viele dabei sind, wo das Lied eine Situation darstellt und die Schauspieler*innen dann sozusagen eine kleine Szene spielen können, weil der Song eine kurze Geschichte erzählt. Die Präsenz, die die Darsteller*innen haben und die Art und Weise, wie sie die Geschichten und Lieder präsentieren, macht eigentlich schon alles aus. Man braucht da gar nicht so viel an Beiwerk. Das ist sehr schön, weil es eine große Direktheit hat und das Publikum – so hoffe ich – auch sehr direkt abholen und fesseln wird. Durch die wunderschönen Kostüme von Maud Herrlein werden die Zuschauer*innen direkt in die 20er Jahre versetzt. Generell muss ich mein Team wieder sehr loben, auch Elke König mit ihrem wunderbaren Bühnenbild und Barbara Manegold, die wieder fantastische Choreographien gemacht hat.