"Das Stück ist höchst emotional."

Amir und Hassan wachsen in Kabul Mitte der 70er Jahre wie Brüder auf. In der standesbewussten afghanischen Gesellschaft ist das keine Selbstverständlichkeit, denn Amir kommt aus einem großbürgerlichen Elternhaus, während Hassan der Sohn des Dieners von Amirs Vater ist. Doch ihrer Zuneigung und dem Gefühl der Verbundenheit kann das nichts anhaben. Bis Amir ein unfassbares Verbrechen an Hassan beobachtet, aber zu feige ist, seinem Freund zu helfen…

Das Westfälische Landestheater bringt nun einen absoluten Weltbestseller in Deutscher Erstaufführung auf die Theaterbühne: Drachenläufer von Matthew Spangler nach Khaled Hosseinis Erfolgsroman. Regisseur Gert Becker, der am WLT unter anderem „Er ist wieder da“ und „Unterwerfung“ inszenierte, freut sich, wieder in Castrop-Rauxel zu sein und spricht im gemeinsamen Interview mit Dramaturg Christian Scholze über sein neuestes Projekt.

WLT: Das Buch „Kiterunner“ erschien 2003, der gleichnamige Film kam 2007 in die Kinos. Wieso lohnt es sich, den Titel jetzt auf die Bühne zu bringen?
Christian Scholze: „Drachenläufer“ ist eine zeitlose Geschichte, die elementar menschliche und existenzielle Fragen behandelt. Die Themen, die verhandelt werden, wie Verbundenheit, Schuld und Familie, sind universell. Es ist eine zutiefst menschliche Geschichte.
Gert Becker: Gerade was den Schauplatz – Afghanistan – angeht, hat die Geschichte für mich sogar an Aktualität gewonnen. Ich sehe das heute brennender denn je. Das ist ja genau unser Thema: „Wie geht es den Menschen dort?“. Alle haben gejubelt, als die Taliban kamen und was war die Folge? Eine Katastrophe! Bis heute. Es kommen so viele tagesaktuelle Themen in dem Stück vor, wie Migration oder Flucht.
Christian Scholze: Es gibt viele Parallelen zu unserer Gesellschaft. Wenn man sich etwa die Schicksale der Kinder ansieht, die in Afghanistan aus den Familien geholt werden, um für Männer zu tanzen und dann von ihnen missbraucht werden, findet man hier ähnliche Tragödien.
Gert Becker: Wenn man an all die Missbrauchsfälle denkt, die hierzulande in den vergangenen Monaten aufgedeckt wurden… Wir haben uns in den Proben intensiv damit auseinandergesetzt und mussten mit Schrecken feststellen, dass dieser Verkauf von Kindern in Afghanistan ja fast gewerbsmäßig betrieben wird.

WLT: Wie habt ihr alle diese verschiedenen Themen in den Proben erarbeitet?
Gert Becker: Ich habe festgestellt, dass sich durch die Schnelligkeit der Theaterfassung die Ereignisse überstürzen . Es ist ein absolutes Wechselbad der Gefühle. Als Theatermacher finde ich es toll, dass man hier nicht nur über den Kopf, sondern vor allem über die Gefühle dem Stück Ausdruck verleihen kann. Ich habe die Schauspieler*innen dazu animiert, sich fallen zu lassen. Auch mal in den Proben zu heulen oder zu schreien. Es einfach rauszulassen, mal laut werden. Das Stück darf keinen Moment der Ruhe haben.
Der Haken an der Theaterfassung ist der Erzähler, durch den der Fluss der Erzählung ins Stocken geraten könnte. Aber mit Oliver (Anmerkung: Oliver S. El-Fayoumy) haben wir einen Schauspieler, der diese Klippe brillant umschifft, indem er dem Publikum den Fortgang der Geschichte nicht nur erzählt, sondern das, was er erzählt, quasi wieder durchlebt. Es darf – gefühlsmäßig – keine Pausen geben. Wir dürfen die Zuschauer*innen aus dieser Gefühlswelt nicht mehr herauslassen. Es gibt nur ganz wenige Sätze, die rein die Handlung schildern, alles andere kann und muss er wiedererleben, in der Erinnerung kommentieren. Es gibt ganz viele Varianten. Dann fängt er eben auch mal an zu weinen oder so.

WLT: Was hat dich daran gereizt, „Drachenläufer“ zu inszenieren?
Gert Becker: Es ist einfach eine faszinierende Geschichte, die man sehr gut im Theater spielen kann. Ich greife ungern auf theaterfremde Mittel zurück und als mir die Idee mit dem Schattenspiel kam, war klar: „Das willst du inszenieren. Damit kannst du was machen. Damit kannst du eine Geschichte erzählen.“ Mit dem Schattenspiel hat man eine ungewohnte Ästhetik. Es hat sich herausgestellt, dass das Zwischenspiel von Bühne und Schattenwand wunderbar funktioniert.

WLT: Die Geschichte ist teilweise sehr brutal. Hilft dir die Schattenwand dabei, gewisse Szenen auf der Bühne umzusetzen?
Gert Becker: Absolut. Sie kann Szenen sogar noch verstärken, wie etwa die Vergewaltigungsszene von Hassan. Davor hatte ich – ehrlich gesagt – ein wenig Angst, denn normalerweise verbindet man mit Schattenspiel etwas Schönes. Es hat sich aber gezeigt, dass es auch oder gerade mit den schlimmen Szenen funktioniert. Beim Publikum passiert viel mehr im Kopf, wenn sie nur die Schatten sehen. Da entsteht vieles, was es sich noch vorstellen muss. Es sieht viel mehr als wir letztlich auf der Bühne zeigen.
Christian Scholze: Wenn die Szene nur erzählt werden würde – ohne Schatten – wäre die Wirkung definitiv nicht so stark.
Gert Becker: Auf jeden Fall. Es greift dich unheimlich an. Die Verbindung, die Interaktion zwischen Bühne und Schatten funktioniert wunderbar. Man hat mit der Schattenwand einfach sehr viele Möglichkeiten. Es gibt auch Szenen, bei denen das Publikum mal durchatmen oder sogar lachen kann.

WLT: Viele Zuschauer*innen werden sicherlich das Buch oder den Film kennen. Warum eignet sich das Stück auch für alle anderen?
Christian Scholze: Ich finde, es eignet sich gerade für diejenigen. Sie werden von der Emotionalität der Inszenierung überrascht sein und umgehauen werden.
Gert Becker: Das hoffe ich. Das Publikum, das ganz unbedarft in die Vorstellung geht, wird – das wünsche ich mir zumindest – von seinen Gefühlen übermannt werden. Das Stück ist höchst emotional. Ich bin auf die Reaktionen der Zuschauer*innen sehr gespannt.

Die Premiere feiert das WLT am Samstag, 30. November um 20 Uhr in der Stadthalle Castrop-Rauxel. Die schlechte Nachricht für interessiertes Publikum: Die Premiere ist bereits restlos ausverkauft. Die gute Nachricht: Für die Vorstellungen am 20. und 21. Januar 2020 im WLT-Studio gibt es noch Karten. Einen exklusiven Preisvorteil erhalten alle, die ein WLT-Weihnachtsabo buchen. Denn zu den darin enthaltenen fünf Vorstellungen („Verräter“, „Die Mitwisser“, „Romy Schneider – Das Leben einer Ikone“, „Good Morning, Boys And Girls“ und „Musikladen“) für nur 72€ (erm. 61€) gibt es zusätzlich für eine Vorstellung von „Drachenläufer“ zwei Karten zum Preis von einer.

Karten, Abos und Informationen an der Theaterkasse: Maximilian Bock, 02305 – 978020 oder bock@westfaelisches-landestheater.de.